Die Zigeuner-Lieder von Brahms bilden keine durchgehende Handlung wie etwa ein Opernlibretto oder ein erzählender Zyklus (z. B. Schuberts Winterreise). Stattdessen sind es eigenständige Miniaturen, die jeweils ein typisches Gefühl oder eine Szene aus der Welt der ungarischen Volksliedtradition darstellen.
Was verbindet die Lieder trotzdem?
- Thematische Einheit: Alle drehen sich um Liebe, Leidenschaft, Treue, Untreue, Sehnsucht und Tanz.
- Ungarisches Kolorit: Rhythmik, Tonfall und Bilder (Csárdás, Zimbal, Rimaflut, Ketschkemet) schaffen eine gemeinsame Atmosphäre.
- Emotionaler Bogen: Obwohl keine lineare Geschichte erzählt wird, kann man eine Art Spannungsbogen erkennen:
- Lied 1–2: Schmerz über Untreue und Verlust.
- Lied 3–4: Innige Liebe, aber auch Reue und Treue.
- Lied 5–6: Lebensfreude, Tanz, Werbung.
- Lied 7–8: Treueversprechen und Abschiedsschmerz.
- Lied 9–11: Sehnsucht, Liebesglück, schwärmerische Hingabe.
Die Lieder sind somit nicht narrativ verbunden, sondern eher wie ein Kranz von Liebesliedern – jede Nummer ein eigenständiges Bild, aber zusammen entsteht ein Panorama von Liebesfreude und Liebesleid im ungarischen Volksliedstil.
Der emotionale Spannungsbogen wird von Brahms mit folgenden musikalischen Mitteln verstärkt:
Untreue und Klage (Lied 1–2)
- Rhythmik: Schleppende, klagende Rhythmen, oft punktiert oder mit gedehnten Notenwerten.
- Tonarten: Molltonarten dominieren, was die düstere Stimmung verstärkt.
- Dynamik: Leise, klagende Passagen mit plötzlichen Ausbrüchen – musikalisches Weinen.
- Wirkung: Ausdruck von Schmerz und innerer Zerrissenheit.
Innige Liebe und Treue (Lied 3–4)
- Rhythmik: Leicht tänzerisch, fast liedhaft, mit regelmäßigen Phrasen.
- Tonarten: Wechsel zu Dur, was Wärme und Geborgenheit vermittelt.
- Dynamik: Sanft, innig, oft piano bis mezzoforte.
- Wirkung: Gefühl von Zärtlichkeit und Treue, fast volksliedhafte Schlichtheit.
Lebensfreude und Tanz (Lied 5–6)
- Rhythmik: Typische Csárdás-Rhythmen – schnelle Wechsel zwischen langsamen und raschen Abschnitten, synkopierte Akzente.
- Tonarten: Strahlendes Dur, oft mit modalen Wendungen, die ungarisches Kolorit erzeugen.
- Dynamik: Laut, jubelnd, mit plötzlichen Crescendi.
- Wirkung: Ausgelassenheit, Tanzlust, fast ekstatische Freude.
Treueversprechen und Abschiedsschmerz (Lied 7–8)
- Rhythmik: Beruhigt, getragen, mit langen Notenwerten.
- Tonarten: Molltonarten kehren zurück, oft mit Dur-Einschüben als Hoffnungsschimmer.
- Dynamik: Leise, zurückgenommen, mit Steigerungen bei emotionalen Höhepunkten.
- Wirkung: Mischung aus Ernst, religiöser Innigkeit und Abschiedsschmerz.
Sehnsucht und Liebesglück (Lied 9–11)
- Rhythmik: Fließend, lyrisch, mit schwingenden Bewegungen.
- Tonarten: Durtonarten dominieren, oft mit romantischen Modulationen.
- Dynamik: Schwärmerisch, mit Steigerungen bis forte, dann wieder zart zurückgenommen.
- Wirkung: Sehnsucht, Liebesglut, schwärmerische Hingabe – der Zyklus endet in strahlender Wärme.
Die Stimmverteilung ist auffällig. Die Lieder sind für vierstimmigen gemischten Chor geschrieben, aber Brahms behandelt die Stimmen oft nicht gleichmässig. Besonders der Tenor erhält häufig führende Linien oder solistische Einsätze. Hier ein Überblick:
- Der Sopran übernimmt in Lied 3, 6, 8, 11 die Melodie.
- Der Tenor ist in Lied 1, 2, 5, 7, 9, 10 klar die Hauptstimme.
- Der Alt hat ein Solo in Lied 4.
- Der Bass ist meist rhythmisch und harmonisch stützend, weniger solistisch.